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Ein Kind zu töten… (Quien puede matar a un nino?)

Ein Kind zu töten…
(Quien puede matar a un nino?)
Spanien 1976
Regie: Narciso Ibanez Serrador
Musik: Waldo de los Rios
mit: Lewis Fiander, Prunella Ransome
Länge: 106 Min
Label: Bildstörung

Was ist nur aus unseren Kindern geworden?

In kaum einem Jahrzehnt legte der Horrorfilm wohl stärker den Finger in die Wunden gesellschaftlicher Missstände als in den 70ern. Ob es der Umgang der Gesellschaft mit Außenseitern, Andersartigen war (Die Wiege des Bösen), die Auswirkungen der Industrialisierung und des technischen Fortschritts (Texas Chainsaw Massacre), die Situation von Kriegsveteranen (Deathdream), der Konsumierungswahn bzw. –zwang (Zombie) oder die Bedrohungen durch Atombombentests (The Hills Have Eyes) und dem Drogenkonsum der Hippieära (Blue Sunshine). Der Horror, die Bedrohung der medienspezifisch zugespitzten Situationen sowie auch dessen Reaktion darauf entsprangen immer auch aus dem unguten, den verdrängten Ängsten und Schuldgefühlen seiner Zuschauer. Das Label „Bildstörung“ hat nun mit Ein Kind zu töten… einen Klassiker dem deutschen Publikum wieder zugänglich gemacht, der im Spektrum des gesellschaftskritischen Horrorfilms eines der direktesten, deutlichsten und damit nachhaltigsten Exemplare dieser Gattung darstellt.

Tom und seine schwangere Frau Evelyn, ein Touristenpärchen in Spanien, entfliehen der pulsierenden und hektischen Atmosphäre des spanischen Festlandes, indem es sich auf eine einsame Insel zurückzieht. Dort angekommen machen sie nur Bekanntschaft mit den Kindern des Dorfes, nichts ahnend, welche Gefahr von ihnen ausgeht.

Es ist das beunruhigende Potential und damit die Stärke des Films, das die Erwachsenenwelt derart schuldig an der jungen Generation geworden zu sein scheint, das schon ein Blick oder ein durch Handauflegen auf den Bauch der schwangeren Evelyn entstandenes Gefühl wie eines geheimen Codes gleich die Kinder gegen ihre Elterngeneration mobilisiert. Die Erwachsenen als potentielle Feinde. Aus dem steten Konflikt der Generationen ist ein Krieg der Generationen entstanden. Ihre Kampfstrategie entspringt dem aus der Sichtweise der Erwachsenen auf die Heranwachsenden beinhalteten Schwachpunkt. Kinder sind süß, niedlich, in ihren Gefühlen und Bewertungen immer ehrlich und direkt – und vor allem: unschuldig. „Quien puede matar a un nino? – Könntest du ein Kind umbringen?“ fragt schon der Originalfilmtitel und macht damit zudem auch das Dilemma des Paares und die daraus resultierende Überlegenheit der Kinder deutlich. Das Tabu der Gewaltanwendung gegen Kinder und deren Durchbrechung, die dramaturgische Leitlinie des Films, erscheint im Film zu keinem Zeitpunkt als selbstzweckhaft, da die heranwachsenden Aggressoren keine Auswüchse exploitativer Phantasie sind. Obgleich der Film keine direkten Gründe für das violente Verhalten der Kinder dieser Insel anführt, so zeigt er als Gegenüberstellung bereits in der Eingangssequenz ihr Leiden in der Welt der Erwachsenen mit den dazugehörigen Synonymen des Unfassbaren: Auschwitz, Vietnam, Biafra. Immer schwingt der Tenor mit: Am stärksten haben unter Krieg und Terror stets die Kinder zu leiden. Mit dieser langen dokumentarischen Introduktion sprengt der Film gleich zu Beginn die Konventionen des Genres (und wurde wohl aus dem Grund auch in den bisherigen deutschen Veröffentlichungen entfernt) und weist damit dieser Sequenz einen zentralen Rahmen zu. Obwohl der Film danach was Spannungsaufbau und das kreieren einer Atmosphäre der Bedrohung anbetrifft so subtil wie effektiv die Regeln des Horrorfilms als Rahmen für seine Geschichte benutzt, so schweben über allen Vorgängen doch immer die Anfangsbilder der leidenden Kinder und geben dem Film somit Vielschichtigkeit und Transparenz. Die Offenheit der Beweggründe der Kinder und Jugendlichen gibt dem Film darüber hinaus einen universellen und demnach weiterhin aktuellen Diskussionswert. Krieg und Terror sind schließlich nicht die einzigen Vorkommnisse, unter denen Kinder zu leiden haben. „Ein Kind zu töten…“ ist ein ambitionierter wie intelligenter Film, der zudem beweist, dass sich Unterhaltung und Anspruch keineswegs ausschließen und hat im Land der Schubladen positive Propaganda verdient.

Bild und Ton dieser Edition sind ihrem Alter entsprechend in guter Verfassung. Als Auswahlmöglichkeit gibt es die brauchbare, weil nicht entstellende deutsche Synchronisation, sowie die englische und die originale spanisch-englische Sprachfassung neben zuschaltbaren deutschen Untertiteln. Als Bonus befinden sich zwei Interviews mit dem Regisseur Narciso Ibanez Serrador und dem Kameramann Jose Luis Alcaine auf der DVD. Ferner gibt es ein Booklet mit einem ausführlichen Interpretationsangebot sowie den Soundtrack von Waldo de los Rios auf einer Extra-CD, der das dramatische, tragische und beunruhigende Potenzial des Films mit einem klassischen Orchesterarrangement (Tracks 3, 4, 5, 6, 9, 12, 13) treffend untermalt, dabei auf traditionelle Art eine Atmosphäre der Bedrohung heraufbeschwört, die im Film in Verbindung mit den sonnendurchfluteten Bildern der malerischen Insellandschaft kontrastiert wird. Das Nichtvorhandensein einer normalen, behüteten und glücklichen Kindheit; die kindliche Verbindung von Spiel und Gewalt findet sich in einer Kindermelodie wieder, die zugleich bizarr und melancholisch verfremdet wird (Tracks 1, 6, 11, 13, 14). Mediterran leichte Töne instrumentieren das Thema der weiblichen Hauptperson Evelyn dabei (Track 2, 7, 10), das auch in einer gesungenen Version vorliegt (Track 10). Der dokumentarische Anfang mit seinen aufwühlenden Bildern wird von aufheulenden, entfesselt wirkenden Geigen und Trompeten begleitet. Das Kinderlachen zieht sich als akustisches Leitmotiv durch den gesamten Soundtrack des Films, das im Film das unschuldig naive Böse verkörpert.

Marco Geßner