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André Previn (1929–2019) – Das Chamäleon

Ein Porträt
von Matthias Büdinger für Cinema Musica 37

“I hope I never get over being a player.”
“You can’t play jazz and chamber music with enemies.“
André Previn

Wir leben in einer Welt von Beschränkungen und Eingrenzungen, innerlicher und äußerlicher Natur – die pure Unfreiheit. Unsere Wohnungen haben so und so viele Quadratmeter, und das bleibt so, wenn wir nicht umziehen. Unsere Arbeitszeiten sind – zumindest bei den abhängig Werktätigen – vorgegeben, und das bleibt so. Gewisse Urlaubstage im Jahr können wir uns Freiheit vorgaukeln, bis die Alarmglocke der Werkshalle uns wieder zum Fließband ruft. Auch unser Charakter, unser Wesen, ist beschränkten Parametern des individuellen Seins unterworfen. Wir sind eben so oder so geartet und können kaum über diese Schatten springen. Auch die Begabungen, die Talente, unsere Interessen, sind bei den meisten Menschen höchst überschaubar.

Aber Individuen gibt es, meist sind es ja Künstler, die sprengen geradezu alle Ketten irdischer Determinierung. Sie tanzen auf vielen Hochzeiten künstlerischen Ausdrucks und sind auf allen mit prächtigen Resultaten vertreten. Sie lassen sich mit herkömmlichen Kategorien humanen Alltags gar nicht einordnen, nicht erfassen. Sie flutschen uns, den journalistischen Deutern und Verstehenwollern, wie Seife aus der Hand.

Zu diesen bewundernswerten Künstlern zählt André Previn, dem wir hier als wahren Universalmusiker anlässlich seines 85. Geburtstags im April 2014 unsere Referenz erweisen möchten. In seinem grandios breitgefächerten musikalischen Leben war er bemerkenswerter Jazzpianist, frühreifer Hollywood-Arrangeur, hoch versierter und hoch dotierter Filmkomponist, bewunderter Opern- und Konzertkomponist und natürlich global anerkannter Dirigent klassischer Musik. Habe ich was vergessen? Der Mann ist gleichsam so mit Musik gefüllt, dass er schlicht verschiedenste Ventile braucht, um sich ausleben zu können. Immer wieder hat er betont, dass ein Tag, an dem er nicht Musik spielt, komponiert oder Partituren studiert, ein verlorener Tag sei.

Dass Musiker aller Couleur heutzutage mehr als jemals zuvor mit allen möglichen Musiksparten flirten und fremdgehen ist ja eigentlich nichts Besonderes mehr. Schlagersänger wie Heino machen einen auf Hardrocker, Opernsängerinnen wie Diana Damrau singen Nummern aus Mary Poppins, die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker veredeln Filmmusik-Klassiker, Thomas Quasthoff versucht sich an Jazz-Standards. Bei all diesen Versuchen geht es darum, sich mal abseits der eingefahrenen Gleise des Musikbetriebs zu bewegen, mal was Anderes auszuprobieren, zu zeigen, dass man „in“ ist und „cool“; kommt heute gut in der Vita und stört niemanden mehr, wenn es denn gelingt. Vergiss die immer noch ätzend medial herumgeisternden Kategorien U und E (es gibt sie nicht mehr, aber durch ihre Erwähnung, wie hier, und der Äußerung, dass es sie nicht mehr gibt, wird ihre geisterhafte Existenz eigentlich nur noch weiter notbeatmet!)

André Previn lässt die eben erwähnten „Crossover“-Versuche durch seine erstklassigen Leistungen auf so unverschämt vielen musikalischen Gebieten zu kleinen Grenzverkehr-Episödchen mutieren. Previns geradezu zirzensisch-magische Darbietungen als Komponist und Dirigent auf so unterschiedlichen musikalischen Parketts wie Jazz, Filmmusik, Musical, Oper, Klassik sind von durchweg bemerkenswertem Niveau und zeigen einen einzigartig talentierten Musiker, dessen geistig-musikalischer Horizont offenbar wenn nicht grenzenlos, so doch extrem weit gespannt ist.

Bei allem, was Previn in den vergangenen fast 70 Jahren musikalisch angepackt hat – sein stürmisches Privatleben mit fünf Ehegemahlinnen, darunter Mia Farrow und Anne Sophie Mutter, lassen wir einmal außen vor – hat man stets den Eindruck, es koste ihn nicht allzu viel, auf hohem Niveau virtuose Musik zu schreiben oder auch zu spielen, sei es eine Jazz-Session, ein Mozart-Klaviertrio oder eine nuancenreiche Filmmusik, sei es ein Violinkonzert oder eine Oper. Sein Talent ist so immens, so außergewöhnlich ausgeprägt, dass er mit steter Nonchalance und großer Entspanntheit, mit amerikanisch zu nennender Lockerheit und eleganter Kultiviertheit die Musik vielleicht nicht aus dem Ärmel schüttelt, aber doch flink und geschickt aufs Notenpapier zu bannen vermag. Er ist also nicht der Typ Komponist à la Brahms und Bruckner, die ihre Werke nur unter übergroßen Unsicherheiten und Selbstzweifeln schrieben.

Diese Lockerheit, verbunden mit einer grenzenlosen Neugier und Offenheit aller guten Musik gegenüber, egal, ob es sich um Beethoven, Rózsa, Korngold, Walton, Jazz oder Broadway handelt, verbunden mit einer osmotischen Fähigkeit, sich als Komponist viele musikalische Stile und Idiome einzuverleiben und dennoch an gewissen Eigenheiten erkennbar zu bleiben, machen Previn zu einem einzigartigen Musiker. Gerne wird er mit Leonard Bernstein verglichen, obwohl er diesen Vergleich gar nicht nötig hat. Previn ist Previn. Zu alldem kommt auch noch sein sanftes, freundliches, fast bescheiden auftretendes Wesen mit einem ironisch scharfen Humor hinzu, der sehr anglo-amerikanisch wirkt und sich glänzend mit dem pointierten Biss eines Billy Wilder oder Alan Jay Lerner vertrug, mit denen Previn befreundet war und öfter zusammengearbeitet hat. Für eine brillante Pointe mit hintergründigem Witz geht Previn gleichsam meilenweit, und seine Äußerungen in Interviews und Filmporträts oder auch seine Bücher zeugen von einem hochkultivierten, wunderbar ironisch gelassenen Menschen, der offenbar in allen Lebenslagen über eine erhabene Souveränität verfügt. Das zeigt bereits der Umstand, dass selbst die Flucht aus Berlin 1938 mit seiner Familie vor den Nazis zunächst nach Paris, dann schließlich nach L.A., von Previn nicht etwa tragisch oder dramatisch verdüstert erzählt wird, sondern gleichsam als nüchterner Teil seines Lebens erscheint.

Für ihn zählte immer nur die Musik, er ist durchdrungen von ihr, und wenn er als Jude eben nicht mehr in Berlin mit seinem Vater vierhändig die großen klassisch-romantischen Werke von Haydn bis Brahms durchspielen konnte, dann eben in Paris, oder später Los Angeles. Previn zeigte ein enormes Vermögen darin, eine neue Kultur (eben die US-amerikanische) in sich aufzusaugen, wie er auch Jahrzehnte später, als Chef des London Symphony Orchestra, quasi zu einem Bilderbuch-Briten wurde, mit großem Landhaus und der dazugehörigen „Sir“-Auszeichnung. Überhaupt ist die wahrscheinlich bemerkenswerteste Leistung Previns als „seriöser“ Konzertsaal-Dirigent seine stete Pflege des britischen Repertoires. Mit maßgeblichen Einspielungen von Werken von William Walton und Benjamin Britten, mit denen Previn auch befreundet war, sowie von Edward Elgar und Ralph Vaughan-Williams gelang es ihm endgültig, sein „Schmuddel“-Image als Hollywood-Musiker und Jetset-Star loszuwerden. Auch Werke der russischen Schule (z. B. eine grandiose Aufnahme der Zweiten Sinfonie von Rachmaninow) gehören zu Previns größten Leistungen als Dirigent. Er liebt Richard Strauss (seine Filmmusiken und Konzertwerke zeugen davon!). Ich entsinne mich, in München von ihm ein beeindruckendes Heldenleben mit den Philharmonikern gehört zu haben, meine erste Begegnung mit diesem monströsen, umstrittenen Opus. Dessen ungeachtet wird Previn, wenigstens in Deutschland, von der seriösen Musikkritik nicht in die hehre Dirigentenklasse solcher Herren wie Furtwängler, Karajan, Bernstein, Rattle, Haitink, Wand, Sanderling, Solti, Klemperer oder Walter aufgenommen, was aber in diesem Falle wohl nichts mit seiner schillernden Vergangenheit zu tun hat. Viele Orchestermusiker, und er hat die großen Orchester von Berlin bis Tokio dirigiert, loben Previns präzise Schlagtechnik, sein unspektakuläres, nur der Sache dienendes Auftreten, sein Beharren auf klar strukturierte Rhythmen und seinen wunderbar entspannten Humor. Er sieht sich selbst als ausübenden Musiker, als einen der ihren, und nicht als eitlen Star am Pult, der mehr wert ist als der Tuttispieler in der zehnten Reihe links.

Bevor Previn ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre als ernstzunehmender klassischer Dirigent von sich reden machte, war er bereits ein mit vier Oscars ausgezeichneter Adaptierer und Dirigent von großen Musical-Verfilmungen (Gigi, Irma La Douce, My Fair Lady, Porgy and Bess) und angesehener Filmkomponist. Er war gleichermaßen versiert darin, spritzige Komödien mit eleganter und messerscharf geschliffener Kultiviertheit zu untermalen (vor allem seine Billy Wilder-Tetralogie One, Two, Three, Irma La Douce, Kiss Me Stupid und The Fortune Cookie), wie er auch über genügend dramatische Verve verfügte, um unsägliche Filme wie Four Horsemen of the Apocalypse (1962) oder Horror-Melodramen wie das Bette Davis-Grusical Dead Ringer (1964) mit elegant aufpeitschenden Klängen zu veredeln, die ihre Herkunft aus dem Schostakowitsch-Prokofjew-Fundus nie verleugnen können, deren mächtig überpointierte Akzentuierungen aber von subtiler Ironisierung zeugen, wie sie nur Previn zu eigen war. Hier wiederum zeigt sich seine mühelose und souveräne Beherrschung aller Musikidiome des ausgehenden 19. und „modernen“ 20. Jahrhunderts. Es fällt auf, dass Previns Film- und Musicaldirigate mit ähnlich scharfen Konturierungen und schwungvollen Leidenschaften versehen sind wie bei seinem großen Kollegen Alfred Newman, der sicher auch ein glänzender klassischer Dirigent gewesen wäre.
Previns mal jazzig, mal französisch burlesk angehauchte Komödienmusiken (Poulenc meets Gershwin) erinnern mitunter in ihrem frivolen Ton an Leonard Bernsteins großartige Candide-Ouvertüre, die Previn vielleicht als Blaupause gedient haben mag (man vergleiche etwa seine Titelmusik zu All in a Night‘s Work).

In der nicht gänzlich gelungenen Billy Wilder-Arbeit Kiss Me Stupid (1964) versuchen zwei Hobby-Popmusikschreiber, ein Klavierlehrer und ein Tankwart, dem großen Schnulzensänger Dino (Dean Martin gibt sich hier herrlich selbstironisch) ihre unveröffentlichten Werke anzudrehen, und fragen sich, ob Provinz-Leute wie sie überhaupt eine Chance haben, einmal groß raus zu kommen (da sagt der eine sinngemäß: „Hank Mancini kam aus Aliquippa.“) Ray Walston als Klavierlehrer gibt untalentierten, zum Einschlafen spielenden Laien Unterricht. Was müssen sie spielen? Natürlich das einzige Werk für Klavier, das es in der gesamten Filmgeschichte zu geben scheint: Für Elise. Previn macht sich einen diebischen Spaß daraus, seine over-the-top-dramatische Untermalung der obsessiven Eifersuchtsanfälle Walstons – seine Frau, gespielt von Jack Lemmons Ehefrau Felicia Farr, ist sehr attraktiv – thematisch aus der Beethoven-Nummer abzuleiten und orchestral zu verdüstern. Previn schreibt also gegen die Komödie und zieht den hintergründigen Spaß gleichsam aus der lachhaften Ernsthaftigkeit der Musik. Wunderbar boshaft ironisch gelingen ihm auch zwei der besten Stücke des Soundtracks zu The Fortune Cookie, der allerersten Zusammenarbeit des Dream-Teams Walter Matthau-Jack Lemmon: The Bad Guys ist ob seiner mysteriös-schleichenden Saxophon-Melodie eine Art Pink Panther-Variante, aber deutlich aus dem Hause Previn stammend, während The Nice Guys ein schmerzhaft anmutender, aber sanft swingender Blues mit dezent ironischer Melodie ist – nicht minder previnesk.

Two for the Seasaw (1962) war eine bemerkenswerte Studie über urbane Einsamkeit und Beziehungsunfähigkeit mit Shirley MacLaine und Robert Mitchum. Eine bluesige Solo-Trompete im Main Title erzählt eigentlich schon den ganzen Film – großes Kino und große Filmmusik. Der wahrscheinlich beste und kultigste Film in Previns Filmographie ist indes Bad Day at Black Rock von 1955. Der Titel des von John Sturges in grandiosem Cinemascope inszenierten Film Noir-„Westerns“ (der Film spielt 1945!) ist herrlich ironisch, oder spielt suggestiv mit B-Movie-Ästhetik. Der verstörende und ungemein spannende 80-Minuten-Film, ein beeindruckendes Plädoyer gegen Rassismus und Xenophobie, wartet mit großer Besetzung auf: Spencer Tracy, Robert Ryan, Lee Marvin. Schon mit der ersten Sekunde des Main Titles schafft es Previn, uns mit aufpeitschender, kompromissloser Dramatik zu packen, die sehr wirkungsvoll mit den Helicopter-Aufnahmen eines schnell durch die Prärie rasenden Zugs korreliert, der Zug, aus dem schließlich Tracy aussteigen wird; der pointierte Beginn eines straff sich steigernden mysteriösen Plots.

Mitte der 60er Jahre gelang es Previn, Hollywood den Rücken zu kehren und als Dirigent anerkannter Sinfonieorchester Fuß zu fassen. Damit war seine kompositorische Arbeit aber keineswegs beendet. Sie verlagerte sich nun von Filmscores auf Werke für den Konzertsaal, so z.B. ein Cello- und ein Gitarrenkonzert, die bereits 1960 entstanden, ein Klavierkonzert von 1985 und ein besonders gelungenes Violinkonzert von 2001, das Previn für seine damalige Ehefrau Anne Sophie Mutter schrieb. Ein dreisätziges Werk, das mit allen virtuosen, eklektisch zu nennenden Qualitäten Previns nachhaltig zu glänzen vermag: spätromantisch schmelzendes Melos, harte dissonante Brechungen à la Prokofjew, sarkastischer Humor à la Poulenc. Im letzten Satz gelingen ihm wunderbar rührende und klassisch-moderne Variationen auf das deutsche Volkslied Wenn ich ein Vöglein wär. Das Werk wurde mit Mutter und dem Boston Symphony Orchestra unter Previns Leitung für die Deutsche Grammophon eingespielt.

Damit nicht genug: 1998 brillierte der Komponist in San Francisco mit einer Opernfassung des Tennessee Williams-Klassikers A Streetcar Named Desire mit einem fantastischen Sängerensemble, allen voran Renee Fleming als Blanche Dubois. Das Stück ohne Musik ist fast schon eine Oper. Previn schrieb eine beeindruckend biegsame Partitur, die sich gekonnt den Stilismen von Impressionismus, Spätromantik, Jazz und Atonalität bedient, um dennoch immer sprachnah und rhythmisch ungeheuer prägnant am partiell hochpoetischen Text zu bleiben. Die Musik klingt modern und adäquat, ohne aber intellektuell abgehoben zu sein. Sie ist rührend und emotional, wo es angebracht ist, und kompromisslos hart, wo es das Libretto erfordert. Natürlich haben manche Kritiker wieder negativ angemerkt, dass die Partitur mitunter wie Filmmusik klinge. Previn hat es verneint. Eine müßige Diskussion.

Previn ist nun 85 und dirigiert nicht mehr. Seine Webseite ist seit Jahren nicht aktualisiert worden. Er ist physisch fragil geworden, doch sein Geist ist immer noch scharf. Eine grandiose musikalische Vita Activa liegt hinter im. Man hat ihn mit schönen Filmdokumentationen beehrt, so z.B. mit A Bridge Between Two Worlds von 2010, in dem seine Ex-Frauen Mia Farrow und Anne Sophie Mutter sehr privat zu Wort kommen und Previn selbst, der ja ansonsten immer den selbstironischen, souveränen Mann von Welt gibt, eine rührende Geschichte erzählt: Viele Jahrzehnte, nachdem er seine Heimatstadt Berlin verlassen musste, dirigierte er zum ersten Mal die Philharmoniker und besuchte die Gegend, in der er aufgewachsen war. Es gab dort einen kleinen Park mit Hügel, in dem er im Winter immer mit dem Schlitten heruntergefahren war. Es war nun wieder Winter und es lag Schnee. Previn beobachtete einen kleinen Jungen, der wie einst er den Hügel runterfuhr. Previn fragte ihn schüchtern, ob er auch mal dürfe, woraufhin der kleine Junge ihm seinen Schlitten gab. Gewiss nicht ohne emotionale Bewegung bewegte sich Previn auf dem Schlitten den Hügel hinunter. Rosebud!