
Score Record Company SRC 10001-2 (Promo) (21 Tracks/62.58 Minuten)
Die Flucht ist eine aufwendige deutsche TV Produktion, die auf Arte in einer vierstündigen Ausstrahlung bzw. in der ARD als Zweiteiler gezeigt wurde. Sie erzählt von Ostpreußen in den Kriegswirren 1944/45. Als die Ostfront immer näher rückt, beginnt ein gewaltiger Flüchtlingsstrom im Winter gen Westen zu ziehen. Kai Wessel wollte einen Film drehen, der konsequent aus der Perspektive der Zivilbevölkerung erzählt: „Als ich am dritten Drehtag zum ersten Mal den großen 800 bis 900 Meter langen Flüchtlingstreck in Bewegung sah, bekam ich einen sinnlichen Eindruck von den Massen, die damals in Bewegung waren und es heute überall auf der Welt noch immer sind, um vor Hunger und Krieg zu fliehen.“
Für die Filmmusik wurde eine große epische Musik im Stile von Ennio Morricones Es war einmal in Amerika gewünscht. Sie sollte bereits im Hauptthema die Liebe zur Heimat Ostpreußen, die Schönheit der Landschaft, die Größe einer ungewöhnlichen Frauenfigur, aber auch schon das Wissen um den kommenden Schmerz und alles Leid beinhalten.
Enjott Schneider komponierte eine vielschichtige Musik. Im Eröffnungstrack wird das tragende Lena-Hauptthema vorgestellt, das im weiteren Verlauf in unterschiedlichen Variationen erklingen wird. So beschreibt die vokale Version die „innere“ Stimme von Lena. Den Sopran Part übernimmt – wie bei Jahrestage auch – Gabrielle Speck. Lenas Empfindungswelt wird durch eine eigenständige Musik ausgedrückt. Wenn durch die Liebesgeschichte zwischen Lena und dem französischen Kriegsgefangenen Francois die Anstandsregeln des ostpreußischen Adels verletzt werden, drückt Enjott Schneider dies mit dem Einsatz des Duduks (armenisches Blasinstrument) aus. Um der düsteren Stimmung des Films entgegenzuwirken, wird das Hoffnungsthema für die Liebe zu Ostpreußen in positiven Tönen dargestellt.
Ein musikalischer Kunstgriff erklingt, wenn sich zum erstenmal der Flüchtlingstreck in Bewegung setzt. Um die Dynamik in Der Treck zieht los musikalisch umzusetzen werden auf den Celli Schläge mit den Bögen ausgeführt, stampfende Bassfiguren erklingen und mischen sich unter das Heimatmotiv. Um die Hoffnungslosigkeit, das Leid, die Trauer um den Abschied und die stockende Schwerfälligkeit im Treck musikalisch darzustellen, lässt Schneider beide Motive leicht asynchron spielen. Erst wenn dieses Thema in Vor dem Haff ein weiteres Mal erklingt, verbinden sich beide Motive harmonisch. Der Flüchtlinge haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Nur das Überleben zählt.
Die Flucht beinhaltet eine eigenständige orchestrale Musik, die eine wichtige Funktion innerhalb des Films erfüllt. Sie beschreibt die Gefühlswelt und Emotionen der Hauptfiguren. Die Landschaft und Heimat wird in einer großen musikalischen Geste dargestellt. Moderne Klänge und Sounds kommen bei verstörenden Elementen wie dem Fliegerangriff oder der Liquidation der Gefangenen zum Einsatz. Auch der solistische Violinen Einsatz von Manuel Druminski zählt zu den Höhepunkten des Scores; gerade im Track Dissonanzen erklingt einer der schönsten Momente.
Für mich unverständlich, warum es keine offiziell im Handel erhältliche CD Produktion gibt. Die Verantwortlichen verschenken hier eine Chance auf eine große und eigenständige deutsche Filmmusik hinzuweisen.
Bewertung: ★★★★
Bernd Klotzke