
Colosseum CST 8114 (52:19/ 16 Tracks)
Das Mädchen, das die Seiten umblättert ist die subtile Geschichte einer Rache. Melanies Traum von einer Karriere als Konzertpianistin wird durch die Taktlosigkeit der Juryvorsitzenden des Musikkonservatoriums zerstört. Jahre später wird sie zunächst die Babysitterin und später die Notenumblätterin und Vertraute dieser Frau – und rächt sich. Der Plot ist wenig originell, allen Berichten zufolge ist die Umsetzung aber weit entfernt von den melodramatischen Exzessen, die mit dieser Sorte Plot sonst einhergehen. Garant für den künstlerischen Erfolg des Films ist nicht zuletzt die Besetzung. Catherine Frot spielt die erfolgreiche, aber unsichere Pianistin. Racheengel Melanie wird von der fantastischen Déborah François, der jungen Mutter aus L’Enfant der Dardenne Brüder, verkörpert.
Auch das Setting ist nicht zufällig gewählt. Regisseur Denis Dercourt ist ein professioneller Viola-Spieler, der am Strasbourger Konservatorium lehrt. Er kennt also das Metier. Und der Soundtrack lässt darauf schließen, dass er die Spannung zwischen der raffinierten, wohlstrukturierten Oberfläche und den unterschwellig brodelnden Emotionen der klassischen Musik für seinen Film nutzt.
Auf dem Soundtrack hören wir brillant und recht kühl gespielte Klaviertrios von Schubert und Schostakowitsch und Klavieretuden im Stil von Bach. Der Score selbst orientiert sich in seinen Klavierparts an besagten klassischen Vorbildern und unterfüttert diese mit Streicherthemen, die in ihrer Vortex-Struktur nicht zufällig an Bernard Herrmann erinnern. Schließlich ist dies ein psychologischer Thriller – und wenn jemand den musikalischen Blueprint für dieses Genre gelegt hat, ist das Herrmann. Allerdings ist Lemonniers Score deutlich gedämpfter und trotz der Verwendung des Bulgarischen Sinfonie-Orchesters kammermusikalischer. Ein wenig erinnert der Score auch an die Musiken David Sinclair Whitakers für Dominik Moll (Harry meint es gut mit dir, Lemming). Ein weiterer von Hitchcock beeinflusster französischer Regisseur, dessen Filme das Eindringen einer fremden Person in die vermeintlich harmonische Familie thematisieren. Wenn der Score Rückschlüsse auf den Film zulässt, ist Das Mädchen, das die Seiten umblättert ein weiterer Beleg für die Fähigkeit des französischen Films vertrautem Terrain neue Perspektiven abzuringen.
Bewertung: ★★★☆
Dieter Wiene