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Lünen ist der Nabel der Welt

Martin Todsharow über das 18. Kinofest in Lünen und über seinen neuen Film Nichts als Gespenster, der am 29. November in unsere Kino kommt.

Wie kam es zu der Verbindung zwischen Dir und dem Kinofest Lünen?

Das war erst mal eine große Überraschung. Es gibt ja schließlich nur ganz wenige Filmmusikpreise in Deutschland. Als Mike Wiedemann, der Leiter des Festivals, eines Tages anrief und andeutete, dass man beim 18. Jahrgang in Lünen zum ersten Mal auch einen Preis für die Musik vergeben will, war ich natürlich hoch erfreut und habe sofort zugesagt.

Wie hattest Du Dir das Kinofest aus der Ferne vorgestellt? Das klingt doch erst mal nach ziemlich klein und irgendwo am Rande des Ruhrgebiets?

Das ist aber gar nicht so! Lünen ist zumindest an diesem Wochenenende der Nabel der Welt und hat einen sehr guten Ruf. Für fast alle Regisseure und Produzenten, die ich kenne, ist Lünen ein Begriff. Ein kleines, aber feines Festival, wo es wirklich nur um den deutschen Film geht – wo man im Unterschied z. B. zu München Filme präsentiert, die zwar fast alle für das Fernsehen, aber vorrangig für die Kinoleinwand produziert worden sind.

Und Lünen ist ja – wenn man z. B. auf die Vergabe der Lüdia, den mit 10.000 € dotierten Hauptpreis schaut, vor allem ein Publikumsfestival. Hat eine Filmmusikjury da nicht eventuell das Problem, dass nur ganz wenige Filme mit einem besonderen musikalischen Background zu sehen sind?

Überhaupt nicht. Wir sind als Jury nicht angetreten, um den deutschen Filmmusikpreis zu vergeben. Wir haben stattdessen einfach nur die Filme geschaut, um zu sehen, was dann passiert. Wir waren vollkommen unvoreingenommen, wobei dann schon mal die Frage auftauchte, ob eine Bewertung überhaupt infrage kommt, wenn so gut wie keine oder nur drei Minuten Musik zu hören ist. Wir haben uns ansonsten aber einfach überraschen lassen.

Wie ist das dann in der Jury gelaufen? Musstet Ihr – Du, der Journalist Jörg Gerle und der Filmregisseur Peter Timm – erst noch gemeinsame Bewertungskriterien finden? Gab es da lange Auseinandersetzungen?

Komischerweise nicht. Aber das ist mir schon oft so gegangen. Man kommt aus dem letzten Film und konzentriert sich sofort auf die Produktionen, in denen die Musik besonders hilfreich ist. Dabei spielt natürlich erst mal die Erfahrung eine Rolle – ob man nun über Filme schreibt, Filme dreht oder selber für musikalische Backgrounds verantwortlich ist Und in Lünen hat sich die Debatte sehr schnell auf drei Filme konzentriert. Da ging es dann allerdings schon um die Frage, was bewertet werden soll. Entweder Can Erdogans Arbeit für Marcel Wehns Von Einem, der auszog, einem sehr beeindruckenden Dokumentarfilm über Wim Wenders, wo wir sofort sagen mussten: die Musik ist auf den Punkt, auch wenn sie nur eine Länge von drei oder vier Minuten aufzuweisen hat. (zu hören und zu sehen unter: www.canerdogan.com/movies). Sie hat uns berührt und sie ist an genau den richtigen Stellen eingesetzt.
Bei den beiden anderen Filmen handelt es sich dagegen um Konzepte, in denen der Score und die Songs miteinander verbunden sind und in denen kompositorisch eine ganz andere Strecke zurückzulegen war – wobei dann natürlich auch mehr Fehler passieren können. Die Frage war für uns, ob wir einfach nur das bewerten, was uns emotionialisiert hat, oder ob uns die Entwicklung des Konzepts und seine Durchführung besonders gefallen hat. Und da sind wir uns ziemlich schnell einig geworden.

Die beiden Filme waren Leroy von Armin Völkers, die Geschichte eines farbigen Teenagers, der sich in die Tochter einer Nazi-Familie verliebt, und Blindflug, für den Thomas Mehlhorn dann schließlich den mit 2500 € dotierten Filmmusikpreis bekommen hat. Auch das eine Komödie, in der allerdings nicht durch Pubertäts- oder Rassismus-Klischees, sondern durch Zufälle und Dummheiten alles durcheinander kommt.

Beide Filme decken jeweils ein Spektrum ab, das mit Musik sehr schnell zum Kippen gebracht werden kann. Zu emotionalisieren könnte sofort heißen, sentimental zu werden und den Film kaputt zu machen. Oder aber die Gefahr, zu mickeymousen, zu überzeichnen, wenn die komödiantischen Elemente in den den Vordergrund rücken. Wer am besten damit umgeht, das haben wir versucht herauszufinden. Wer am besten die Figuren unterstützt und trotzdem pointiert gearbeitet hat. Thomas Mehlhorn hat diese Aufgabe in Blindflug unserer Meinung nach am besten gelöst – und er hat die Songs, ein Motiv von Johann Sebastian Bach und seinen Score in Einklang gebracht.

Lünen ist die Härte, war aber offenbar sehr relaxt – wenn man Martin Todsharows Festivalstimmung kurz zusammenfasst. Für ihn ist das Kinofest ja dann auch noch mit der Galavorstellung eines neuen Projekts zu Ende gegangen.

Ja – bei Nichts als Gespenster handelt es sich um die Verfilmung eines Episodenromans, wobei ich mich zunächst verwundert fragte, ob ich nun einen Kinderfilm vertonen soll. Der Bestseller von Judith Herrmann war mir bis dahin vollkommen unbekannt. Martin Gypkens erzählt nun auch in seinem Film insgesamt fünf Geschichten, in denen sich alles um die Frage dreht, ob das Leben nicht manchmal vollkommen anders verlaufen kann. Wenn man einer Frau oder einem Mann begegnet und alles aus dem Ruder läuft. Die Sehnsucht nach dem großen Glücksgefühl spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Protagonisten laufen vor ihren Problemen weg, um in der Ferne, in Nevada, Italien, Jamaica, Island, aber auch in Cottbus auf die Suche zu gehen.

Der Film ist ruhig und melancholisch, aber trotzdem nicht traurig. Und er kann zum Teil auch auch sehr komisch sein. Die Gestaltung der Musik dürfte eine sehr interessante Aufgabe und eine künstlerische Herausforderung gewesen sein. Was mich zu der Frage führt, wann Martin bei diesem Projekt eingestiegen ist?

Ich habe den Roman nicht mehr extra gelesen. Martin Gypkens hatte mir ja schließlich das Drehbuch geschickt. Mich haben dann vor allem die Bilder interessiert. Ich bekam eine zweieinhalbstündige Rohschnittfassung, die zwar eher noch eine Art Materialsammlung war, die aber trotzdem eine Stimmung vorgab, mit der ich schon sehr viel anfangen konnte. Und sowohl der Regisseur als auch der Produzent Andreas Eicher erwarteten von mir glücklicherweise ein ganz eigenes Konzept und nicht, dass ich z. B. die in Hollywood üblichen Streicher vom Himmel hole. Die Schauspieler und die Bilder sprechen für sich selbst – die Musik soll dem Zuschauer nicht einreden, dass die Protagonisten nur andauernd Probleme haben. Ich habe mich stattdessen darauf konzentriert, die einzelnen Episoden durch einen roten Faden zusammenzuhalten. Ich hatte den Klang des Films ziemlich schnell im Kopf, habe dann sofort Instrumente gesucht, die passen und, obwohl Martin Gypkens noch im Schneideraum war, die ersten Entwürfe eingespielt. Diese Aufnahmen wurden unter den Schnitt gelegt – und so ist dann ganz allmählich eine Musik entstanden, mit der alle Beteiligten sehr zufrieden sind.

Ist der ganze Film so geschnitten worden oder hast du dann auch noch auf den Schnitt hin komponiert?

Beides: Im Idealfall ist es ja so, dass man die Musik auf den fertigen Film komponiert. Dass man sich dabei u. a. am Schnittrhythmus orientiert. Hier hat es sich irgendwie gegenseitig befruchtet. Es gab natürlich viele Skizzen, die wieder unter den Tisch gefallen sind – was aber nichts machte, weil ich den Film dann noch auf eine ganz andere Weise, durch insgesamt elf Songs für die vielen Musiker, die an den Aufnahmen beteiligt sind, begleitet habe. Es gibt ja in der Regel immer erst mal den eigentlichen Soundtrack, der sich aus dem Score und der sonst noch verwendeten Musik zusammensetzt (Anmerk.: und der in diesen Tagen von den Bonner Normal-Records veröffentlicht wird). Als dann irgendwann klar war, dass es im Film selber nur ganz wenige Songs geben wird, ist mit Zustimmung der Produzenten ein Album entstanden, das den Film atmet und ihn quasi im Stil von Moritaten nacherzählt. Ein internationales Projekt mit interessanten Sängern und Sängerinnen und charismatischen Stimmen, die – basierend auf dem Buch von Judith Herrmann und auf den Bildern – wirklich was zu erzählen haben. Diejenigen, die den Film kennen, werden sich bestimmt an das Feeling, an den Sound erinnert fühlen. Für alle Anderen ist es vielleicht einfach nur der Soundtrack melancholischer Großstadtmenschen.

Das klingt nach einem Projekt, bei dem der Komponist alle Freiheiten hatte.

Ja – auf jeden Fall. Ich hab sehr viel Spaß dabei gehabt.

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Wer mehr über Martin Todsharow und seine Arbeit erfahren möchte, dem sei neben seiner Website eine Doppel-CD ans Herz gelegt. Erschienen ist diese in der Filmdienst-Reihe „Komponiert in Deutschland“ (Normal Records Bonn).
Zum Kinofest Lünen vielleicht noch das: Der Filmmusikpreis in Höhe von € 2500,- ist eine private Stiftung von Andrea und Jürgen Skok. Den schwarzen Rahmen mit einer goldenen Schallplatte, einer Plakette und dem Plakatmotiv des Kinofestes haben die beiden persönlich zusammengebastelt. Und sie haben versichert, dass es den Preis auch im nächsten Jahr geben wird.