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Les Egarés (Philippe Sarde)

Universal 980 9887 [25:33 / 11 Tracks]

Wie nur soll man eine CD bewerten, die in gleichem Maße für Ärger wie für Begeisterung sorgt? Natürlich kennt jeder den Fall, dass manchmal von einem Komponisten Stücke eines älteren Scores für einen neuen recycelt werden. Doch Philippe Sarde treibt die Schindluderei nun auf die Spitze bei der Musik zum neuen Film seines langjährigen Regiefreundes Andre Téchiné, in dem Emmanuelle Béart eine französische Jüdin spielt, die in den Kriegswirren des Jahres 1940 zusammen mit ihrem kleinen Sohn auf der Flucht vor den Häschern ist. Hierbei handelt es sich allerdings keineswegs um eine Neukomposition, sondern vielmehr um den kompletten Score zu dem 1978 entstandenen, von Jeanne Moreau inszenierten Film L’Adolescente, der bislang einzig und allein auf LP erhältlich gewesen ist.

Es ist in der Tat ein Etikettenschwindel der besonderen Art, den Sarde hier betreibt, denn auf geradezu hanebüchene Weise erklärt er selbst im Booklet-Text, dass er Téchiné zum Teil bereits existierende und zum Teil nicht verwendete, aber von ihm komponierte Tracks vorgespielt habe, die sich dieser dann für seinen Film angeeignet hat. Kein Wort freilich darüber, dass hierbei das fast vollständige Album von L’Adolescente – es fehlt leider der von Jeanne Moreau und Yves Duteil gesungene herrliche, vom Hauptthema abgeleitete Chanson, mit dem die Platte einsetzt – schnurstracks übernommen wurde und nur die Reihenfolge der Tracks sowie deren Titel ausgetauscht worden sind. Dazwischengefügt wurde außerdem noch der titelgebende Cue aus dem sowieso längst auf CD erhältlichen Sarde-Score Le Train (1973), der in Un Printemps 1940 (Track 3) umgetitelt worden ist.

Doch für Sarde-Fortgeschrittene hat sich das Kuriositätenkabinett damit immer noch nicht erledigt: An zwei recht auffälligen Stellen (in Track 4 von 1:50 bis 2:10, und in Track 10 von 0:50 bis 1:10) fehlt auf der CD urplötzlich der Part der vom Jazzgeiger Stéphane Grappelli gespielten Solo-Violine, der neben der Streicherbegleitung in den entsprechenden Stücken der LP erklingt. Auch wenn die Violinspur auf den noch erhaltenen Bändern eventuell in diesen Passagen unvollständig war, hätte man diesen groben Schnitzer beim einfachen Vergleichen mit der LP sofort merken müssen. Hingegen beinhaltet Track 9 ein sage und schreibe leicht verändertes Arrangement des auf der LP Voyage lmaginaire und auf der CD Le Garcon aux Yeux Gris (Track 7) benannten Stücks – im Prinzip der einzige neue Titel auf dieser CD!

Folglich hat man es mit einem regelrechten Wirrwarr der Tracks zu tun, und im Grunde gilt es gar nicht, Les Egarés zu rezensieren, sondern L’Adolescente, den man zu Sardes allerschönsten Werken aus den 70er Jahren zählen darf. Basierend auf zwei ausdrucksvoll elegischen Hauptthemen, ist diese Musik durchweg in sehr warmen Pastellfarben gehalten und bietet delikate impressionistische Klangmalereien, die den Hörer vollständig zu bezaubern vermögen. Die Instrumentierung ist dabei sehr weich und transparent gehalten und lässt den vielen Violin- und Akkordeonsoli (gespielt von Grappelli und Marcel Azzola) genügend breiten Raum, um sich neben der bedächtigen Streicher- und Holzbläsersektion des London Symphony Orchestra zu profilieren. Für den Liebhaber verträumt romantischer und in sinnlichen Klangfarben sich entfaltender französischer Sinfonik ist diese Musik ein wahrer Edelstein: Eine fein abgestufte, poetische Komposition, bei der keine Note zuviel oder gar am falschen Ort platziert ist.

Man fragt sich nur, wieso man nicht gleich L’Adolescente in vollständiger Form als Reissue herausgebracht hat anstatt eines merkwürdigen Zwitters mit dem Namen Les Egarés.

Bewertung: ★★★★★

Stefan Schlegel

erschienen in The Film Music Journal 31/32